Warum noch arbeiten, wenn man an der Börse schnell viel Geld verdienen kann? Immer wieder folgen Jugendliche dem Lockruf dubioser Plattformen. Im Oberaargau hat das diesen Sommer Lernende die Ausbildung gekostet. Im Gespräch: Thomas Zaugg, Rektor Berufsfachschule Langenthal.
Rolf Marti
An der Berufsfachschule Langenthal ist diesen Frühling ein neues Phänomen aufgetreten: Lernende, die sich mit Daytrading beschäftigen. Worum geht es?
Diese Lernenden glauben, dass sie mit kurzfristigen Börsenspekulationen das schnelle Geld machen können. Sie lassen sich von reisserischen Videos in Sozialen Netzwerken verführen und geraten so in die Fänge sogenannter Multi-Level-Marketing-Netzwerke. Die Videos zeigen junge Leute, die dank Börsengewinnen ein Leben im Luxus führen.
Wie funktionieren diese Netzwerke, was ist Daytrading?
Die Grundidee: Freunde werben Freunde, um gemeinsam und mit Hebelwirkung am Finanzmarkt zu investieren. Dabei sollen kurzfristige Schwankungen der Börse ausgenutzt werden. Es geht also nicht um langfristige Anlagestrategien. Die Netzwerke versprechen hohe Renditen und befeuern ihre Mitglieder rund um die Uhr mit Vorschlägen, welche Anlagen sie kaufen oder verkaufen sollen. Zudem versprechen sie Provisionen für jedes geworbene Mitglied. Um Mitglied zu werden, muss man Kapital einschiessen.
Ist es nicht legitim, dass Lernende an der Börse handeln?
Es gehört zur Allgemeinbildung, dass man lernt, mit Finanzprodukten umzugehen. Bei den beschriebenen Netzwerken geht man jedoch ein hohes finanzielles Risiko ein. Die wenigsten Jugendlichen sind sich bewusst, wie klein ihre Chance auf einen Gewinn ist.
Ist das nicht Privatsache?
Nur solange dies nicht den Erfolg in der Lehre gefährdet. Das Perfide am Daytrading ist, dass man die Kurse permanent überwachen muss – es ist ein Day- and Nighttrading. Lernende, die «traden», sind ständig am Handy und chronisch übermüdet. Die Leistung in Betrieb und Schule sinkt rasant ab. Mehr noch: Die Lernenden verinnerlichen die fatale Botschaft dieser Netzwerke. Sie lautet: Nur Dummköpfe verdienen ihr Geld mit Arbeit. Klar, dass die Ausbildung an Bedeutung verliert. Der Traum vom grossen Geld macht die Lehre zur Nebensache.
Wie verbreitet ist Daytrading an der Berufsfachschule Langenthal?
Wir hatten diesen Frühling einige Vorfälle. Es kam zu Lehrvertragsauflösungen. Zudem hatten wir einen Lernenden, der – obwohl er zuvor gute Leistungen gezeigt hatte – das Qualifikationsverfahren nicht bestand. Mit dem neuen Lehrjahr hat sich die Situation glücklicherweise beruhigt.
Wie sind Sie auf das Problem aufmerksam geworden?
Die ersten Informationen kamen von betroffenen Lehrbetrieben. Sie haben uns vor einem Flächenbrand gewarnt, weil das Geschäftsmodell dieser Netzwerke vorsieht, Mitglieder anzuwerben. Daytrading wurde unüberhörbar zum Pausengespräch. Auch von Schulen aus anderen Kantonen und aus meinem persönlichen Umfeld wurden mir Vorfälle zugetragen. Es ist also kein lokales Problem.
Wie hat die Berufsfachschule Langenthal auf die Gefahr eines Flächenbrands reagiert?
Lehrpersonen für Allgemeinbildenden Unterricht und Lehrpersonen für Wirtschaft haben zeitnah eine Unterrichtslektion entwickelt. Wir haben den Lernenden erklärt, wie Netzwerk-Marketing funktioniert und welche Risiken damit verbunden sind, wieso Daytrading mit Glücksspielen vergleichbar ist und weshalb es zur Sucht werden kann. Zudem haben wir Fakten präsentiert: Mehr als drei Viertel aller Daytrader fahren Verluste ein, nur einer von hundert erwirtschaftet langfristig Gewinne. Schliesslich haben wir ein Arbeitsblatt entwickelt, mit dem die Lernenden selbstständig verschiedene Fragestellungen zum Thema bearbeiten konnten. Diese Unterrichtseinheit haben wir in vielen Klassen durchgeführt.
Wie ist sie bei den Lernenden angekommen?
Die meisten fanden es gut, über die Thematik aufgeklärt zu werden. Vereinzelt gab es Widerspruch von Tradern. Das führte in den Klassen zu fruchtbaren Diskussionen.
Was raten Sie Berufsbildenden, die bei Lernenden Anzeichen von Daytrading feststellen?
Sie sollten ihre Befürchtungen im direkten Gespräch mit den Lernenden thematisieren. Wichtig scheint mir der Einbezug der Berufsfachschule. Mit einem gemeinsamen Vorgehen können wir mehr erreichen. Führen Gespräche nicht zu einer befriedigenden Lösung, muss die Frage gestellt werden, ob das Lehrverhältnis weitergeführt werden kann. In solchen Fällen empfehle ich, die Ausbildungsberatung beizuziehen.
Hinter den Kulissen
Eine Recherche von «STRG_F», einem Reportageformat des Norddeutschen Rundfunks, zeigt an einem Beispiel eindrücklich, wie Multi-Level-Marketing-Netzwerke operieren und mit welchen Methoden sie Mitglieder werben.
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