Nicht alle Lernenden mit einer Behinderung nutzen die Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs. Das kann sie in der Lehrzeit in Nöte bringen. Die Lehrbetriebe sind aufgefordert, auch dieses Thema im Auge zu behalten, falls sie bei Lernenden Schwierigkeiten oder Auffälligkeiten beobachten.
Peter Brand
Nach den Sommerferien starten viele Jugendlichen mit der Lehre in einen neuen Lebensabschnitt. Einige von ihnen auch mit Behinderungen. Sie haben, sofern sie die Voraussetzungen für die gewählte Ausbildung erfüllen, einen gesetzlichen Anspruch auf Nachteilsausgleich. Dieser kompensiert oder mildert mit geeigneten Massnahmen die Nachteile der jeweiligen Behinderung.
Chance annehmen
Viele Behinderungen werden bereits in der Volksschule erkannt, sodass zeitig ein Nachteilsausgleich geltend gemacht und im Bewerbungsprozess mit offenen Karten gespielt werden kann. Trotzdem gibt es immer wieder Jugendliche, die in die Lehre eintreten und nicht wissen, dass sie einen Nachteilsausgleich zugute hätten oder aber diesen nicht geltend machen wollen – sei es, weil sie das Thema aufgrund erlebter Stigmatisierung lieber für sich behalten, sei es, dass sie sich im neuen Umfeld ohne Nachteilsausgleich bewähren möchten, immer in der Hoffnung, die Lehre irgendwie bewältigen zu können. Leider zeigt die Erfahrung, dass sich Behinderungen meist konstant halten und sich kaum auswachsen oder abschwächen. Folglich stellen sich bald wieder gleiche Schwierigkeiten ein.
Aufmerksam sein
Wie können diese Lernenden im Berufsalltag erkannt und unterstützt werden? «Die Lehrbetriebe sind kaum Spezialisten für Beeinträchtigungen», sagt Christoph Düby, Leiter Betriebliche Bildung im Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Bern. «Trotzdem können sie anhand von Verhaltensauffälligkeiten, die sie sich nicht so richtig erklären können, hellhörig werden.»
Gemeint sind zum Beispiel zappelige Lernende. Oder solche, die grosse Mühe mit der Rechtschreibung haben oder sich nichts merken können, auch wenn man es ihnen bereits zehnmal gesagt hat. Das sind Beobachtungen, bei denen die Berufsbildenden genauer hinschauen sollten.
Erfahrungen austauschen
In solchen Situationen ist es sinnvoll, sich mit der Berufsfachschule kurzzuschliessen und die Erfahrungen zu teilen. Vielleicht ist der Lernende hier ähnlich unterwegs. Bestätigt sich der Eindruck, sollte das Thema mit den Betroffenen angesprochen werden. «Allerdings mit der nötigen Sorgfalt und mit viel Fingerspitzengefühl», betont Düby. «Aufgrund erfahrener Stigmatisierung ist ein allfälliger Nachteilsausgleich für Betroffene und ihre Familien ein Tabuthema, das man lieber nicht anspricht. Mit einer offensiven Herangehensweise kann man solche Personen völlig überfordern. Dann verschliessen sie sich, und das ist kontraproduktiv».
Individuell abstimmen
Mit einfachen und geeigneten Massnahmen im Betrieb können Lehrbetriebe dazu beitragen, die behinderungsbedingten Nachteile auszugleichen. Bei einem Lernenden mit Autismus-Spektrum-Störung bewährt sich beispielsweise, dass man ihm immer die gleiche Bezugsperson zuordnet. Zudem kann man ihn in einer Abteilung einsetzen, die nicht so kontaktintensiv ist, und ihm einen fixen Arbeitsplatz in einem ruhigen Umfeld reservieren. Eine Lernende mit Legasthenien wiederum kann man beispielsweise entlasten, indem sie den Arbeitsrapport gemeinsam mit einem Arbeitskollegen ausfüllt. «Alle Massnahmen müssen individuell abgestimmt sein», sagt Düby. «Ein 0815-Muster gibt es nicht.»
Mit dem kostenlosen Newsletter-Abonnement verpassen Sie keinen Beitrag im Berufsbildungsbrief. Der Newsletter erscheint fünf- bis sechsmal pro Jahr.
Jede Woche erscheint in Berner Tageszeitungen der «Einsteiger» – ein redaktioneller Beitrag zu den Themen Berufswahl, Berufsbildung, Mittelschulbildung, Weiterbildung.