Lernende mit Behinderungen haben auch im Lehrbetrieb Anspruch auf Nachteilsausgleich. Was bedeutet das für einen Ausbildungsbetrieb? Nachgefragt bei Roland Rebecchi, Leiter Berufsbildung der W. Althaus AG in Aarwangen.
Peter Brand
Herr Rebecchi, die W. Althaus AG ist ein bewährter Ausbildungsbetrieb. Welche Berufslehren können Jugendliche bei Ihnen absolvieren?
Wir bilden in den vier Berufen Automatiker/-in EFZ, Automatikmonteur/-in EFZ, Kauffrau/-mann EFZ und Logistiker/-in EFZ aus. Insgesamt sind bei uns immer rund 30 Lernende im Einsatz.
Wie häufig haben Sie als Leiter Berufsbildung mit Lernenden zu tun, die Anspruch auf Nachteilsausgleich im Lehrbetrieb haben?
Unter dem Strich sind es rund 20 Prozent der Lernenden, Tendenz steigend. Darunter fallen kleine, aber auch grössere Einschränkungen. Die Bandbreite der möglichen Beeinträchtigungen ist sehr gross. Wir wissen nicht immer gleich zu Lehrbeginn, dass ein Nachteilsausgleich vorliegt. Es gibt auch Lernende, die uns das erst nach einer gewissen Zeit sagen.
Was bedeutet eine solche Ausgangssituation für die Ausbildung im Lehrbetrieb?
Der Betreuungsaufwand ist grösser. Für die Ausbildung und die Produktionsaufträge muss mehr Zeit eingerechnet werden. Je nach Beeinträchtigung braucht es individuelle Anpassungen wie grosszügigere Zeitvorgaben, bessere Erklärungen, mehr Wiederholungen oder passendere Aufträge. Das wiederum bedeutet, dass die Arbeitsabläufe besser organisiert und die Lernprozesse bewusster gesteuert werden müssen. Jeder Fall muss individuell betrachtet werden.
Was ist in Ihren Augen das Wichtigste bei der Ausbildung von Lernenden mit Nachteilsausgleich?
Es braucht in erster Linie Zeit und Geduld. Und das beisst sich dann manchmal mit dem hektischen Tagesgeschäft. Wir sind ein reiner Produktionsbetrieb mit hohen Qualitätsansprüchen. Da kann es schon mal zu Zielkonflikten zwischen Produktion und Ausbildung kommen. Es gilt immer wieder, Verständnis für die besonderen Bedürfnisse der Lernenden zu schaffen. Die Kommunikation ist sehr wichtig. Es geht darum, individuelle Lösungen zu finden. Es geht aber nie darum, einen Lehrvertrag aufzulösen.
Wo liegen die Herausforderungen – oder auch die Grenzen – eines solchen Lehrverhältnisses?
Die Grenzen sind dann erreicht, wenn der Betreuungsaufwand zu gross wird und das Tagesgeschäft darunter leidet. Das bedeutet auch, dass wir nur einen bestimmten Prozentsatz an Lernenden mit Nachteilausgleich ausbilden können. Die Betreuung darf nicht überbeansprucht werden. Wichtig ist, dass die Betreuerin oder der Betreuer zu der betreffenden Person passt.
Die Chancen für den Betrieb?
Einerseits wollen wir Lernenden mit Nachteilsausgleich eine faire Chance geben, damit sie sich im Arbeitsmarkt integrieren können. Andererseits liegt uns auch daran, gut ausgebildete und motivierte Fachkräfte zu gewinnen. Oft sind gerade solche Lernende treue und zuverlässige Mitarbeitende, die gerne im Betrieb bleiben.
Sie sind auch Berufsfachschullehrer und Chefexperte. Was raten Sie aus dieser Optik den Lehrbetrieben?
In Zeiten des Fachkräftemangels ist es für sie sicher eine Chance, Lernende mit Nachteilsausgleich auszubilden. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass jede Organisation an dieser Aufgabe wächst. Es macht Freude, solche Lernenden zum Lehrabschluss zu führen. Selbstverständlich müssen sich Lehrbetrieb und Berufsbildende mit der Thematik des Nachteilsausgleichs befassen und die Mitarbeitenden und Vorgesetzten informieren und für solche Lehrverhältnisse motivieren.
W. Althaus AG
Das Familienunternehmen mit Sitz in Aarwangen ist spezialisiert auf die Entwicklung und Produktion von individuellen Produkten und Lösungen für die industrielle Automatisierung im Schaltschrankbau. Der Betrieb wurde 1968 gegründet und beschäftigt an zwei Standorten über 100 Mitarbeitende.
Nachteilsausgleich in der beruflichen Grundbildung
Lernende mit Behinderungen dürfen in der Ausbildung nicht benachteiligt sein. Sie haben daher Anspruch auf formale Massnahmen, welche die behinderungsbedingten Nachteile ausgleichen. Ein Nachteilsausgleich kann gewährt werden:
- in der Berufsfachschule
- in den überbetrieblichen Kursen
- im Lehrbetrieb (für zu beurteilende Arbeiten)
- für das Qualifikationsverfahren
- für das Aufnahmeverfahren zur Berufsmaturität
- in der Berufsmaturitätsschule sowie für die Abschlussprüfungen
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