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Queer – «Betriebe sollten sich proaktiv mit dem Thema befassen»

Zwischen 5 und 10 Prozent der Lernenden sind queer. Was Lehrbetriebe zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt wissen sollten, erläutert Marin Krämer. Marin Krämer ist Bildungsverantwortliche:r beim Kompetenzzentrum Arbeit der Stadt Bern und arbeitet auf Mandatsbasis auch für die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Bern.

Rolf Marti

«Eine diskriminierungsfreiere Betriebskultur muss entwickelt werden», sagt Marin Krämer.

Marin Krämer: Was versteht man unter «queer»?
«Queer» ist ein Überbegriff für Geschlechtsidentitäten sowie sexuelle und romantische Orientierungen, die ausserhalb der Cis-Hetero-Norm liegen – also der Annahme, dass es nur die zwei Geschlechter Mann oder Frau gibt und man ausschliesslich das jeweils andere Geschlecht begehrt.

Die Orientierung und die Geschlechtsidentität sind Teil der Privatsphäre. Wann werden sie am Arbeitsplatz zum Thema, mit dem sich der Betrieb auseinandersetzen muss?
Die Betriebe sollten sich proaktiv mit dem Thema befassen – also nicht erst, wenn Diskriminierungen auftreten, «nicht bösgemeinte» Sprüche fallen oder es ein Outing gibt. Spätestens in solchen Situationen müssen die Betriebe aber handeln. Sind sie darauf vorbereitet, können sie kompetent und in Ruhe für alle Beteiligten Lösungen suchen.

Die eigene Identität entwickelt sich primär im Jugendalter – also parallel zur Ausbildung im Lehrbetrieb oder in der Mittelschule. Das heisst: Jugendliche sind auf vielen Ebenen gefordert. Vor welchen zusätzlichen Herausforderungen stehen queere Jugendliche?
Unsere Gesellschaft ist geprägt von cis-hetero-normativen Vorstellungen. Queere Jugendliche haben also weniger Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Zudem fehlt es ihnen häufig an verlässlichen Informationen. In den Entwicklungsaufgaben rund um Geschlecht, Beziehung, Identität haben sie deshalb zusätzliche Herausforderungen und erleben oft ein Spannungsfeld. Das kostet viel Aufmerksamkeit und Energie. Das kann sich auf die mentale Gesundheit und auf die Lernleistung auswirken. Dass die Suizidalität bei queeren Menschen um ein Vielfaches höher ist als im Durchschnitt, zeigt, wie gross die Belastung werden kann.

Sie machen mit der Non-Profit-Organisation ABQ Schulbesuche, um mit Jugendlichen über queere Themen zu sprechen. Welche Reaktionen löst das aus?
Wir stossen auf grosses Interesse, aber auch auf viel Halbwissen. Entsprechend haben die Schüler:innen viele Fragen. Sie wollen etwa wissen, wie man «das» merkt, wie sich «das» anfühlt oder wie Eltern, Freunde oder Arbeitskolleg:innen reagieren; oder sie fragen, wie sie Menschen ohne Verwendung oder mit neuem Pronomen ansprechen können. Einige Jugendliche reagieren auch ablehnend. Es ist daher wichtig, dass die Lehrpersonen unseren Besuch mit den Schüler:innen vor- und nachbereiten.

Wenn Lernende offen zu ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität stehen: Wie sollen Vorgesetzte reagieren?
Sich für das Vertrauen bedanken, Akzeptanz äussern und Unterstützung anbieten. Wichtig ist, dass alle Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. Das setzt einen offenen Dialog voraus. Die Vorgesetzten müssen die Bedürfnisse der Lernenden abholen und sie fragen, wie allfällige Massnahmen umgesetzt werden sollen.

Wenn Vorgesetzte vermuten, dass ein:e Lernende:r queer ist: Sollen sie die Person darauf ansprechen?
Nein, das ist ein No-Go. Menschen über ihre romantische oder sexuelle Orientierung oder über ihre Geschlechtsidentität zu befragen, verstösst gegen das Recht auf Privatsphäre. Vorgesetzte sollten eine offene Betriebskultur etablieren, sodass sich queere Lernende outen können – wenn sie das wollen. Sie können auch Brücken bauen, indem sie sich beispielsweise in Gesprächen positiv oder interessiert zu einem queeren Thema äussern. Sie signalisieren damit: Bei mir findest du Unterstützung.

Viele Vorgesetzte dürften mit dem Thema nicht vertraut sein. Oder es löst Unsicherheit aus. Gibt es Anlaufstellen, an die sie sich wenden können?
Wer sich seine Unsicherheit eingesteht und bereit ist, sich zu informieren, findet gut aufbereitete Websites und kompetente individuelle Beratung. Einen guten Einstieg ins Thema bietet die Broschüre «Leitfaden für Leitungspersonen» (Links und Downloads siehe Infobox).

Wenn Lernende sich outen: Welchen Handlungsbedarf gibt es aufseiten der Lehrbetriebe?
Der Handlungsbedarf sollte – wie erwähnt – immer mit den betreffenden Personen abgesprochen werden. Primär geht es darum, dass Lernende akzeptiert werden, wie sie sind, und um den Schutz vor Diskriminierung. Bei trans und nicht binären Menschen kommen weitere Aspekte dazu. Beispielsweise die Frage, wie die Person angesprochen werden möchte und wie man den Wechsel der Anrede oder des Namens intern und extern kommuniziert. Auch infrastrukturelle Bedürfnisse müssen geklärt werden, beispielsweise bezüglich Garderobe oder Toilette.

In einer neuen Umfrage (siehe Box «Sogus-Studie») geben 90 Prozent der queeren Jugendlichen an, dass sie herablassenden Kommentaren ausgesetzt sind. Wie kann sie der Lehrbetrieb davor schützen?
Das Gesetz verpflichtet die Betriebe, alle Mitarbeitenden vor Diskriminierung zu schützen. Es muss klar kommuniziert werden, dass Nulltoleranz gilt und Betroffene auf die vollumfängliche Unterstützung der Vorgesetzten zählen können. Eine diskriminierungsfreiere Betriebskultur muss entwickelt werden. Dazu gehört, ein offenes Umfeld zu schaffen, das sensibilisiert ist und in dem ein konstruktiver Umgang mit Fehlern möglich ist. Das ist die Basis, um dazuzulernen.

Zum Schluss: Weshalb ist Diversität für (Lehr-)Betriebe ein Vorteil?
Erstens: Diverse Teams erarbeiten bessere Lösungen. Das zeigen Studien. Zweitens: Wer Diversität nicht unterstützt, schliesst qualifizierte Fachkräfte aus. Und drittens: Queere Menschen bringen aufgrund ihrer Biografie nicht selten einen hohen Grad an Selbstreflexion und kritischem Denken mit. Das sind wertvolle Ressourcen für ein Unternehmen.

Hinweis: Die Sprachregelungen des Kantons Bern sehen keine Genderzeichen vor. In diesem Artikel wird aus inhaltlicher Kohärenz der Genderdoppelpunkt verwendet.

LGBTI-Label für (Lehr-)Betriebe

LGBTQ-Label

Unternehmen, Bildungsinstitutionen und andere Organisationen, die sich für die innerbetriebliche Gleichstellung von queeren Personen einsetzen, können das Qualitätssiegel «Swiss LGBTI-Label» erwerben. Das gilt auch für KMU mit weniger als 15 Mitarbeitenden. Das Label dokumentiert das entsprechende Engagement gegen aussen. www.lgbti-label.ch

Glossar

  • Queer: Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, welche ausserhalb der Cis-Hetero-Norm liegen.
  • Lesbisch und schwul: Menschen, die sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen.
  • Bi: Menschen, die sich zu zwei oder mehr Geschlechtern hingezogen fühlen. 
  • Trans: Menschen, die sich nicht oder nur teilweise mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde.
    Intergeschlechtlich: Menschen, die mit Geschlechtsmerkmalen geboren sind, welche nicht den medizinischen Normen von «männlich» oder «weiblich» entsprechen.
  • Asexuell oder aromantisch: Menschen, die wenig bis keine sexuelle oder romantische Anziehung verspüren 
  • Non-binär: Menschen, die sich nicht, nur teilweise oder abwechselnd mit den binären Geschlechtern «weiblich» oder «männlich» identifizieren. Ein Teil (aber nicht alle) non-binären Personen bezeichnet sich auch als trans.
  • LGBTI, LGBTIQ, LGBTIQ+: Sammelbegriffe für sexuelle und geschlechtliche Diversität.
  • Cis: Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
  • Hetero: Menschen, die sich ausschliesslich zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen.
  • Cis-Hetero-Norm: Wertesystem, das als Norm setzt, dass Menschen entweder als Mann oder Frau geboren werden und ausschliesslich mit dem jeweils anderen Geschlecht sexuelle und romantische Kontakte eingehen.

Beratung/Weiterbildung für (Lehr-)Betriebe

  • Transwelcome

  • Berner Gesundheit

  • Du bist Du

  • Geschlechter-Radar

  • LGBT+-Fachberatung am Checkpoint Bern

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