Mit dem Eintritt in die Lehre verändert sich der Alltag der Jugendlichen stark. Bildungswissenschaftler Prof. Dr. Markus Neuenschwander von der Pädagogischen Hochschule FHNW beleuchtet diesen Übergang im Gespräch näher und sagt, wie er bewältigt werden kann. Seine Aussagen beruhen auf den Ergebnissen der Längsschnittstudie WiSel.
Peter Brand

Herr Neuenschwander, was bedeutet der Übergang Schule Beruf für die Jugendlichen konkret?
Sie haben eine völlig neue Tagesstruktur mit vollen Tagen und Fünftagewoche. Das sind sie sich von der Schule her so nicht gewohnt. Zudem nehmen sie eine komplett neue Rolle ein. Vorher waren sie Schülerinnen und Schüler und lernten vorwiegend, nun müssen sie als Lernende ihren Beitrag an einen produktiven Prozess im Betrieb leisten und Mitverantwortung tragen. Die jungen Leute pflegen auch neue Arten von Beziehungen, insbesondere solche zu Erwachsenen. Die Veränderungen sind gross und umfassend. Erfreulicherweise bewältigen die meisten Jugendlichen den anspruchsvollen Übergang erstaunlich gut.
Welches sind die grössten Herausforderungen, die auf die Jugendlichen zukommen?
Sie müssen eine grosse Anpassungsleistung erbringen und sich mit wenig Vorwissen rasch auf neue Situationen einstellen. Die Berufswahl ist eine «Entscheidung in Unsicherheit». Die Jugendlichen haben wenige Informationen über den Beruf und den späteren Arbeitsalltag. Zudem stehen sie mitten in der Entwicklung ihrer Identität und verfügen daher nur in einem eingeschränkten Mass über Hinweise zur eigenen Person. Trotzdem müssen sie einen Entscheid fällen, der ihr ganzes Leben beeinflussen wird. Das ist eigentlich eine Überforderung.
Bei Lehrbeginn sind die meisten 15- bis 16-jährig. Was macht diese Lebensphase aus?
Aus meiner Sicht ist für das Verständnis des Jugendalters die Identitätsentwicklung zentral. Die Jugendlichen müssen in dieser Phase herausfinden, wer sie sind, ihre Werte definieren, Perspektiven für ihre Zukunft erarbeiten, ein Selbstkonzept entwickeln und ihre Geschlechtsidentität klären. Weiter lösen sie sich von den Eltern ab. Das führt zur paradoxen Situation, dass sie bei der Berufswahl auf die Mithilfe der Eltern angewiesen sind, sich aber gleichzeitig von ihnen lösen möchten. Weiter müssen die Jugendlichen in der Lehrzeit lernen, hohen Anforderungen gerecht zu werden und Frustration bewältigen zu können. In den letzten Jahren haben bei Lernenden psychische Probleme zugenommen. Letztere sind mittlerweile der grössere Risikofaktor im Lehrstellenmarkt als schlechte Leistungen oder Verhaltensprobleme.
Was bedeutet das alles für die Lehrbetriebe?
Es ist wichtig, dass sie ein Einführungskonzept für die neuen Lernenden entwickeln und anwenden. Das Risiko einer Lehrvertragsauflösung ist in der Probezeit am höchsten und stark abhängig von der fachlichen und sozialen Einführung der Lernenden im Betrieb. Die Lehrbetriebe sollten sich unbedingt die nötige Zeit dafür nehmen. Ebenso wichtig sind regelmässige Rückmeldungen und Interaktionen zwischen Berufsbildenden und Lernenden. Die Qualität der Rückmeldungen ist ein wichtiger Gelingensfaktor in der beruflichen Bildung. Dies gilt ebenso für gute Beziehungen, klare Regeln und ein gutes Zugehörigkeitsgefühl zum Betrieb. In diese Faktoren zu investieren, lohnt sich nachweislich.
Was können die Betriebe tun, um die Jugendlichen möglichst gut zu begleiten?
Der Betrieb sollte Anforderungen an die neuen Lernenden definieren, die dem ersten Lehrjahr gerecht werden. Weiter sollte er im Sinne einer Förderorientierung Hilfestellungen bei der Aufgabenerfüllung geben. Und last but not least ist es hilfreich, wenn sich der Lehrbetrieb für eine gute Lernortkooperation einsetzt und diese Zusammenarbeit pflegt.
Das Praxisbeispiel
Wie unterstützen Berner Betriebe den Übergang Schule Beruf ihrer Lernenden? Der Berufsbildungsbrief hat nachgefragt bei Claudia Egger. Sie ist Berufsbildnerin und Teamleiterin der B+S AG, einem grossen Planungs- und Ingenieurunternehmen, das Zeichnerinnen und Zeichner Fachrichtung Ingenieurbau ausbildet.

«Wir legen grossen Wert darauf, die neuen Lernenden herzlich willkommen zu heissen und sorgfältig in den Betrieb einzuführen. Bei Lehrbeginn kommen alle im Sitzungszimmer zusammen. Dabei sind nebst den neuen auch die bisherigen Lernenden, die Praxisausbildenden und die Berufsbildenden. Hier werden alle vom CEO persönlich empfangen und begrüsst – dies als Zeichen der Wertschätzung. Wir stellen uns gegenseitig vor. Die neuen Lernenden können bereits ein wenig ankommen und sehen, in welches Umfeld sie kommen.
In den ersten beiden Wochen bleiben die neuen Lernenden zusammen und absolvieren gemeinsam eine Grundausbildung aus verschiedenen Elementen. Dabei nehmen sich die dienstälteren Lernenden den neuen an. Für die ehemaligen Schülerinnen und Schüler ist das sehr hilfreich. Am zweiten Tag besuchen sie den Knigge Kurs. Dort erhalten sie wertvolle Hinweise zu ihrem Verhalten und Auftritt im Lehrbetrieb und in der Berufswelt. Während der nächsten Tage lernen sie die Basics des Zeichnens am Computer. Weiter absolvieren sie den SUVA-Parcours, der ihnen die Grundlagen der Arbeitssicherheit vermittelt.
Nach dem Einführungsblock lernen sie ihren konkreten Arbeitsplatz auf der Abteilung kennen. Hier sind sie einer respektive einem Praxisbildenden zugeteilt. Diese Fachperson betreut und begleitet die Lernenden, kontrolliert ihre Arbeit, nimmt gemeinsam Projekte entgegen und unterstützt bei Problemen. Liegen grössere Schwierigkeiten vor, komme ich ins Spiel. Ich begleite und berate die Lernenden und vermittle sie bei Bedarf an externe Fachleute weiter.
Der Wechsel von der Schule in einen Grossbetrieb ist anspruchsvoll. Wir investieren viel, damit sich die Lernenden zurechtfinden, sich entwickeln und ihre Ausbildung erfolgreich abschliessen können. Wir gehen mit ihnen Schritt für Schritt Richtung Lehrabschluss.»
Jede Woche erscheint in Berner Tageszeitungen der «Einsteiger» – ein redaktioneller Beitrag zu den Themen Berufswahl, Berufsbildung, Mittelschulbildung, Weiterbildung.
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