Vor zwanzig Jahren ist das aktuelle Berufsbildungsgesetz in Kraft getreten. Hat es seine Versprechen eingelöst? Ist es noch zukunftstauglich? Der Berufsbildungsbrief hat bei Peter Marbet* von der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) nachgefragt.
Rolf Marti

Welche zentralen Neuerungen hat das Berufsbildungsgesetz 2004 gebracht?
Es hat die Berufe des Gesundheitswesens, des Sozialwesens, der Landwirtschaft und der Kunst ins System der Berufsbildung integriert, die Durchlässigkeit zwischen den Ausbildungsstufen und -wegen verbessert, die zweijährige berufliche Grundbildung EBA eingeführt und die überbetrieblichen Kurse als dritten Lernort etabliert. Zudem ist die Finanzierung zwischen Bund und Kantonen neu geregelt worden.
Das Gesetz wollte die Berufsbildung im Wettbewerb mit der Allgemeinbildung stärken. Sie ist aber weiter ins Hintertreffen geraten. Wieso?
Gemessen an den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und im internationalen Vergleich hat sich die Berufsbildung gut gehalten. Es gibt jedoch einen gewissen Trend zur Akademisierung – ausgelöst auch durch die Berufs- und Fachmaturität – aber vor allem zur Tertiarisierung. Wir müssen daher besser aufzeigen, dass auch die Berufsbildung auf tertiärer Stufe ausgezeichnete Perspektiven bietet. Dank der Höheren Fachschulen kann man ohne Maturität studieren, über die Berufsmaturität steht der Weg an die Fachhochschulen und via Passerelle sogar an die universitären Hochschulen offen. Zudem läuft aktuell die Diskussion, die heutigen Titel der Höheren Berufsbildung mit «Professional Bachelor» und «Professional Master» zu ergänzen. Bei all dem braucht die Wirtschaft jedoch weiterhin Fachkräfte mit beruflicher Grundbildung. Auch hier müssen wir die Wertigkeit der Abschlüsse besser aufzeigen.
Was hat die Integration der Berufe des Gesundheitswesens, des Sozialwesens, der Landwirtschaft und der Kunst ins System der Berufsbildung diesen Branchen gebracht?
Ein klares Profil und eine bessere Ausgangslage bei der Nachwuchssicherung. Beispiel Gesundheitswesen: Früher konnte man erst mit 18 Jahren in die Branche einsteigen. Viele an Gesundheitsberufen interessierte Jugendliche waren nicht bereit, so lange zu warten und entschieden sich für ein anderes Berufsfeld. Heute können die Jugendlichen dank Grundbildungen wie Fachfrau/Fachmann Gesundheit direkt nach der Volksschule einsteigen und sich danach auf Tertiärstufe zur Pflegefachperson weiterqualifizieren. Auch im Kunstbereich gab es vor 2004 kaum Abschlüsse auf Stufe berufliche Grundbildung. Heute gibt es Berufe wie Bühnentänzer oder Bildhauerin. Ohne sie wären alle Kunstausbildungen im Hochschulbereich angesiedelt. So trägt das Gesetz zur Nachwuchssicherung bei, indem Jugendliche mit handwerklichem oder künstlerischem Talent angesprochen werden können.
Das Gesetz wollte die Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Allgemeinbildung erhöhen. Kritikerinnen und Kritiker bemängeln, sie existiere nur auf dem Papier. Die Hürden seien mit Berufsmaturität und Passerelle zu hoch. Haben sie recht?
Nein. Die Zahl der Passerelle-Abschlüsse ist zwar eher tief – aber das ist meines Erachtens nicht das zentrale Kriterium. Wichtiger scheint mir die vertikale Durchlässigkeit, das heisst, dass man über jeden Bildungsweg vielfältige Perspektiven hat und tertiäre Abschlüsse erlangen kann. Die Berufsbildung bietet diese Perspektive mit den Höheren Fachschulen und den Fachhochschulen.
Seit 2004 muss jede Grundbildung alle fünf Jahre daraufhin überprüft werden, ob sie den Anforderungen des Arbeitsmarkts genügt. Reicht diese Kadenz beim Tempo, in dem sich die Arbeitswelt verändert?
Ja. Die Grundbildung soll – wie es der Name besagt – grundlegende Skills vermitteln. Eine zentrale Rolle spielen die überfachlichen Kompetenzen. Sie veralten nicht so schnell. Klar gibt es Berufsfelder wie die Informatik, die innovationsgetrieben sind. Die Bildungserlasse lassen aber genügend Spielraum, damit Lerninhalte rasch und ohne Reform angepasst werden können. Wir bewegen uns da auch in einem Spannungsfeld. Die Lehrbetriebe möchten tendenziell mehr Fachkompetenz vermitteln, die einem stärkeren Wandel unterliegt; als Gesellschaft haben wir aber auch den Anspruch, dass die Lernenden überfachliche Kompetenzen und eine gute Allgemeinbildung mitnehmen.
Vor welchen zentralen Herausforderungen steht die Berufsbildung heute?
Erstens: Die meisten Grundbildungen gehen von einer 100-Prozent-Anstellung aus. Es gibt aber Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände oder -entwürfe nicht so viel Zeit investieren können oder wollen. Für sie müssen wir flexiblere Modelle schaffen. Das heutige Gesetz sieht diese nicht vor. Zweitens: Wir müssen aus sozialpolitischen und arbeitsmarktlichen Gründen mehr Erwachsene – mit oder ohne Sek-II-Abschluss – für eine Lehre gewinnen. Das bedingt nebst den flexiblen Modellen auch erwachsenengerechte Angebote. Drittens: Wer zahlt, befiehlt. Das gilt leider in der Berufsbildung nicht. Der Bund regelt alles, bezahlt aber nur 25 Prozent. Die Kantone wünschen sich ein grösseres finanzielles Engagement.
Sind diese Herausforderungen mit dem Gesetz von 2004 zu meistern?
Das geht im Rahmen von Teilrevisionen. Ich spüre innerhalb der Verbundpartnerschaft keinen Druck für eine Gesamterneuerung.
Ihr Fazit zum Berufsbildungsgesetz 2004?
Das war ein grosser Wurf. 2004 wurde ein robustes und gleichzeitig flexibles Gesetz geschaffen.
*) Peter Marbet ist stellvertretender Generalsekretär der EDK und Leiter des Koordinationsbereichs Berufsbildung & Sekundarstufe II Allgemeinbildung
Bilanz nach 20 Jahren Berufsbildungsgesetz
Peter Marbet hat auf dem Portal transfer.vet eine Auslegeordnung zum aktuellen Berufsbildungsgesetz und zu den Herausforderungen gemacht, vor denen die Berufsbildung heute steht. Zum Artikel
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